Fernab der großen Städte Chinas lebt ein ganz anderer Typus des chinesischen Gelehrten. Er verehrt nicht, oder nicht nur, den alten Kongfuzi, sondern seinen geheimnisvollen Zeitgenossen Laozi, auch Laotse genannt.
Laozi lebte etwa zur gleichen Zeit wie Kongfuzi, soll Bibliotheksangestellter gewesen sein und während dieser Tätigkeit Gelegenheit gehabt haben, die chin. Geschichte mit ihren Blütezeiten und dem unweigerlichen Niedergang eifrig zu studieren. Die fortwährenden Kriege und Krisen haben Laozi schließlich veranlaßt, sich von dem hektischen Weltgetriebe zu lösen. Währen Kongfuzi aus den Streitigkeiten zwischen den Regierenden die Folgerung zog, daß der Staat nur durch strikte Gliederung und strengen Gehorsam zu führen ist, schloß Laozi, das jede Regel von den Menschen über den Haufen geworfen wird und daß alles menschliche Tun und Handeln dem weichen, fast unbemerkbaren, aber konsequent verlaufenden Gang einer inneren natürlichen Gesetzmäßigkeit unterworfen ist. Und daß alles Dasein einem Pfad ohne Richtungspfeile folgt, bestimmt von tiefen, verborgenen Gesetzmäßigkeiten. Jeder, der aussprechen will, was dieser Pfad und seine Gesetze sind, verfehlt sein Ziel. Denn gefunden werden kann nur, was nicht ausdrücklich gesucht wird. Diese Annäherung geschieht durch stille Anschauung und nicht durch Anhäufung von Wissen. Diese Aussagen bilden den Kern jenes Buches von Laozi, welches er einem Zolloffizier beim Verlassen des chin. Reiches in die Feder diktierte. Bevor dieser rätselhafte Mensch im Nichts der Geschichte verschwand, hat er 81 wunderbare Sinnsprüche geschrieben.
Damit Europäer die chin. Schriftzeichen nachsprechen können, ohne die vielen tausend Schriftzeichen zu kennen, entwickelten sich zwei Lautschriften. Die eine alte aus dem englischen Sprachgebrauch stammend, hat noch heute ihre Gültigkeit und heißt "Wade-Giles". Die alte Umschrift heißt "Pinyin". Es liegt auf der Hand, daß auf diese Philosophie kein Herrscher sein Reich gründen und keine Beamtenschaft und Offiziere nach diesem Unaussprechlichen handeln wollten. Gleichwohl war das Sanfte in Laozis Worten so machtvoll, daß es über Jahrhunderte bis heute fortwirkt in der Suche nach der verborgenen Natur. So machtvoll war es, daß es in Musik und Malerei, in das Fühlen und Denken selbst der strengsten Konfuzianer Eingang gefunden hat. Einen kleinen Ansatz davon finden wir in der heutigen Chaos-Forschung. Eins zu werden im wortlosen Verstehen führt zu anderen Einsichten in die Natur. Sie geht weit über die systematische Beobachtung der konfuzianistischen Gelehrten mit ihren verfeinerten Methoden hinaus. Dieses fast poetische Eindringen in die Ströme des Lebens und Vergehens beherrscht auch die chin. Medizin und ihre unglaubliche Kenntnis der pflanzlichen, mineralischen und tierischen Heilmittel. Auf ausgedehnten Wanderungen sammelten auch die taoistischen Gelehrten viele Pflanzen und schufen so die "materia medica", den Grundstock der chin. Heilmittellehre. Auf der Suche nach der "Pille der Unsterblichkeit" experimentierten sie mit diesen Heilmitteln in Selbst- oder Tierversuchen, legten fest, welche Pflanze für welche Krankheit gut ist, beschrieben Giftigkeit und Wechselwirkungen mit anderen Heilpflanzen und bestimmten die therapeutisch sinnvolle Dosis. Noch heute gibt es über ganz China verteilt neben dem offiziellen med. Betrieb weithin bekannt taoistische Ärzte, die in völliger persönlicher Unabhängigkeit Patienten von nah und fern mit den Heilpflanzen der Umgebung und ihren Akupunkturnadeln behandeln und währenddessen ihr Wissen an ihren Enkel weitergeben.